Ausstellung Obrist

Ruth Maria Obrist stellt aus in Aarau:

«Wenn ich nicht Künstlerin geworden wäre, hätte ich Mathematik studiert»

äusserte sich Ruth Obrist gegenüber mir vor einigen Jahren.

«…in ihrem Schaffen sind es die strengen Formen, die dominieren, geordnete Strukturen, eine mystische Klarheit, nahezu Symbolik, die all ihre Kunstwerke verbinden. Sie widerspiegeln die Faszination für das Ausschöpfen der künstlerischen Dimensionen des Materials, um es dann in eine mathematische Struktur zu bringen…..»

Roman Huber

Ruth Maria Obrist
Kompositionen in Dur und Moll

Das künstlerische Schaffen von Ruth Maria Obrist ist geprägt von Sensibilität und Zurückhaltung. Sie behauptet nicht, sondern lässt entstehen. Anders als ein Steinmetz, der dem Material mit Hammer und Bickel eine Form abtrotzt, der also gegen einen Werkstoff und dessen Natur arbeitet, ist das Material ihr engster Partner. Die Künstlerin lässt Teertropfen in ein Leimbad fallen oder träufelt Merkurchrom so auf ihre Bildträger, dass eine zufällig anmutende Ausgewogenheit entsteht.

Dass sich das gewünschte Resultat nicht auf Anhieb einstellt, versteht sich von selbst. Ruth Maria Obrist experimentiert so lange, bis ihre Teertropfen die gewünschte Konsistenz annehmen und das Leimbett, in das sie fallen, eine Dicke gefunden hat, deren Tiefenwirkung ihren Vorstellungen am nächsten kommt. Handwerkliche Sorgfalt ist zentral. Durch sie werden die alltäglichen Stoffe, mit denen die Künstlerin vorzugsweise arbeitet, zu Preziosen. Die aus Industrieblachen genähten Kuben, die sie vor ein paar Jahren herstellte, entwickeln durch die Behandlung mit Weissleim eine transluzide Aura oder die pechschwarzen Teertropfen, die ihre aktuelle Arbeitsphase prägen, gerinnen so, dass an ihren Rändern eine faszinierend geriffelte Struktur entsteht. Deren Eleganz hat viel damit zu tun, dass sie nicht willentlich erschaffen, ihre Form nicht von aussen bestimmt wurde, sondern aus sich selbst entstanden ist.

Die Ergebnisse ihrer Materialexperimente hält die Künstlerin in einem grossformatigen Album fest. Einer der jüngsten Einträge dreht sich um den Einsatz von rezykliertem Plastik. Eine Schweizer Firma hat sich darauf spezialisiert, den aus dem Meer zurückgewonnenen Stoff zu verarbeiten. Ein gräuliches Granulat und ein Faden von etwas flaumiger Konsistenz, aber erstaunlicher Festigkeit entstammen ihrer Produktion. Die Verschmutzung der Meere ist ein Thema, das die Künstlerin beschäftigt, daher das Interesse an diesem Material. Lange war nicht klar, wie es zum Einsatz kommen sollte. Als Strick- oder Häkelgarn zum Beispiel liess er sich nicht gebrauchen, weitaus befriedigender war das Verarbeiten mit der Nähmaschine. Ruth Maria Obrist steppte eine Gitterstruktur auf verschiedene Trägerpapiere, die sie ins Wasser legte, immer wieder anders schrubbte oder wusch, bis nur noch kleinste Papierfetzchen an den Fäden hingen. Wie Wassertropfen an einem Netz. Das passte.

Auch die Teertropfen verweisen auf das Meer. Wie schwarze Tränen steigen sie aus Wracks gesunkener Schiffe an die Meeresoberfläche, geraten an den Strand, verkleben das Gefieder der Vögel. Diese Konnotationen sind für die Künstlerin zentral, bringen sie doch die Nähe von Schönheit und Zerstörung ins Bewusstsein. Bei aller Eleganz sind die Bildobjekte also von grosser Melancholie. Leichter und fröhlicher sind sicherlich die Arbeiten, für die Ruth Maria Obrist auf das Desinfektions- und Heilmittel Merkurchrom zurückgriff. Das helle Orange der Tinktur ist durchscheinend und leicht. Allerdings ist auch diese Werkserie nicht ganz ohne melancholischen Unterton. Denn ein Desinfektionsmittel braucht es nur, wenn Keime vorhanden sind, die vertrieben werden müssen. Doch halt! So viel Interpretation führt in die Irre. Ruth Maria Obrists Arbeiten sind Verdichtungen, die gar nicht auseinandergenommen, sondern in ihrer von Gegensätzen geprägten Ganzheit verstanden werden wollen.

Claudia Spinelli